Die Pension Eva by Andrea Camilleri
Autor:Andrea Camilleri
Die sprache: eng
Format: mobi
veröffentlicht: 2010-12-29T23:00:00+00:00
Und was soll man von dem halten, was an jenem Montag passierte, als Signora Flora nicht bei Tisch war, weil sie ihre schwerkranke Schwester in Palermo besuchte?
An diesem Montag, der später als »der epische Abend« oder auch als »der Abend der Verwandlungen« in die Annalen eingehen sollte, trafen mindestens drei glückliche Umstände zusammen.
Zunächst brachte Jacolino – man fragte sich, wie er immer an Lebensmittel aus Deutschland kam (eigentlich wusste man es sehr wohl, denn sein Vater hatte ja guten Kontakt zu den Deutschen) – an jenem Abend zwei Flaschen grünen Likör in die Pension Eva mit. Keiner wusste, was das für ein Zeug war. Trank man nur einen winzigen Schluck davon, brannte einem davon die Kehle. Dieser Likör, der offenbar mit hochprozentigem Wein gemischt war, machte einen derart betrunken, dass man sich erst drei Tage danach davon erholte.
Zudem hatte Nenè zufällig den Rasenden Roland dabei, den ihm ein Freund zurückgegeben hatte, kurz bevor Nenè in die Pension Eva ging.
Und schließlich war die Zusammensetzung der Huren äußerst überraschend. Denn von den sechs am Vorabend eingetroffenen Mädchen sahen fünf aus, als wären sie Schwestern. Sie sprachen sogar denselben Dialekt. Sie waren allesamt untersetzt, hatten einen großen Busen und einen breiten Hintern und sahen aus wie richtige Landpomeranzen, die an harte Feldarbeit gewöhnt waren. Oft gebrauchten sie schmutzige Ausdrücke (normalerweise taten das die Mädchen nur vor den Kunden) und waren ohne weiteres zu allen Schandtaten bereit. Das sechste Mädchen dagegen war hochgewachsen und rothaarig, schön und zurückhaltend.
Als das hübsche Mädchen, das in der Pension auf den Namen Giusi hörte, das Buch sah, das Nenè auf dem Tisch abgelegt hatte, nahm sie es in die Hand.
»Ach, der Rasende Roland!«, sagte sie.
Nenè wurde neugierig.
»Kennst du das Buch?«
»Ja. Wir haben es in der Schule gelesen.«
»Auf welche Schule bist du gegangen?«
»Ich hab’s bis zur Unterprima geschafft.«
Aber man konnte sehen, dass sie keine Lust hatte, von sich zu erzählen, und daher fragte Nenè nicht weiter.
Beim Essen wurden sie allmählich lauter und alberner. Eine der Frauen erzählte eine Geschichte, die sie in einem Bordell in Piemont erlebt hatte.
Gleich am ersten Abend, so erzählte sie, fiel ihr ein Mann auf, der seinen Blick nicht mehr von ihr abwandte. Er sah sie unentwegt an, sprach sie aber nicht an. Sie ging mit einem anderen Kunden aufs Zimmer, und als sie wiederkam, saß der Mann immer noch da und sah sie an. Am folgenden Abend und auch am darauffolgenden Abend kam er wieder, und wieder sah er sie nur an. Erst an ihrem letzten Abend im Bordell stand der Mann auf, gab ihr ein Zeichen, und sie nahm ihn mit auf ihr Zimmer. Das Mädchen machte sich, halb neugierig, halb verängstigt, auf einen stürmischen Akt gefasst, doch der Mann bedeutete ihr schweigend, dass sie auf dem Bett Platz nehmen solle, und kniete sich dann vor ihr nieder. Er legte den Kopf in ihren Schoß und verharrte so schweigend. Nach einer Viertelstunde – sie war schon ganz nervös – holte der Mann ein Bonbon aus seiner Tasche hervor, wickelte es langsam aus und steckte es sich in den Mund.
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